Reinhard Braun

G.R.A.M.
Nach Motiven von ...
Politiken der Sichtbarkeit

Die Welt ist voller Bilder. Das ist beileibe nicht nur eine banale Tatsache, schlägt dieser Umstand doch seit geraumer Zeit auf jede künstlerische Bildproduktion durch: Das Konzept eines "neuen" Bildes, eines "neuen" Sehens erscheint völlig unglaubwürdig angesichts der täglichen Milliardenauflagen der weltweiten Yellow Press (und nicht nur dieser). Wir haben uns daran gewöhnt, von einer vollständig visualisierten Welt zu sprechen, zumindest "hier" im "Westen", oder, wie es derzeit genannt wird, im Rahmen der "zivilisierten Welt". Doch was heisst das schon? Alle Diagnosen von einem Leben in Bildern, von der Vorherrschaft des Universums der technischen Bilder, davon, dass wir an den Instanzen des Sichtbaren nur teilhaben, wenn wir selbst zu einer Art Bild mutieren, stellen lediglich einen Ausgangspunkt dar, existiert doch im Zusammenhang mit diesen Diagnosen kein stabiler Repräsentationsbegriff. Was wir uns über die Welt zu erzählen (oder in Bildern zu bedeuten) imstande sind, wird ständig (und teilweise ziemlich umstritten) neu ausverhandelt (oder warum holen uns gerade angesichts der aktuellen Kampfhandlungen in Afghanistan die Debatten um Repräsentation, Authentizität und Zensur, die 1991, während und nach des zweiten Golfkriegs ausführlich geführt wurden, wieder ein?) In welcher Weise verschieben sich die Politiken der Sichtbarkeit ständig? In einer aktuellen Publikation mit dem Titel "Imagineering" spricht Tom Holert davon, dass sich Sichtbarkeit gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen verdankt, "mit anderen Worten: Verhältnissen von Macht und Wissen." Und weiter: "Ständig redefinieren die Gebrauchsweisen und Instrumentalisierungen von Bildern die Verhältnisse der Sichtbarkeit."
Was bedeutet es also, wenn G.R.A.M. in einer aktuellen Serie mit dem Titel "Nach Motiven von" eine Reihe von allseits bekannten Fotografien, die seit den 70er Jahren durch die Weltpresse gegangen sind und sich heute in jedem Band über die Geschichte der Fotografie wiederfinden (unter anderem das Bild eines der palästinensichen Kidnapper auf einem Balkon des Olympischen Dorfes in München 1972, oder die "berühmte" Fotografie der Erschiessung eines Vietkong-Offiziers im Jahr 1968) nachstellen? Wie sind solche Fotografien zu lesen?
Handelt es sich um pure Bestätigungen einer Zirkulation visueller Versatzstücke, die zu Ikonen geworden sind, eine Bestätigung massenmedialer Mechanismen? Oder weist diese Strategie nicht doch weiter, indem sie darauf hinweist, dass diese Bilder sozusagen Teil unseres je eigenen visuellen Gedächtnisses geworden sind, ein bildhaftes Koordinatennetz, mit deren Hilfe wir unseren Zugriff auf Wirklichkeiten strukturieren? Und schliesslich: deutet diese Serie nicht darauf hin, dass uns derartige Bilder massiv eingeschrieben sind, und aus diesem Grund von einer weitreichenden Beschriftung des Subjekts durch Medienbilder künden, geradezu von einer Disziplinierung durch Bilder, die es uns gar nicht möglich machen (sollen), in anderen Bildern über die Welt und die Geschichte zu denken? Walter Benjamin hat diesen Umstand in den frühen dreissiger Jahren in Bezug auf den Film so ausgedrückt: "Ich kann schon nicht mehr denken, was ich will. Die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt."
Man kann also davon ausgehen, dass die Serie "Nach Motiven von" ganz wesentlich mit der Frage operiert, welches Verhältnis man zu derartigen (fotografischen) Inkunabeln überhaupt einnehmen kann. Besteht die Möglichkeit, wie sie durch G.R.A.M. angedeutet wird, sich diese Bilder anzueignen, quasi buchstäblich zu besetzten, durch sie hindurch zu gehen, wie es Slavoj Zizek für das psychoanalytische Symptom gefordert hat, und dadurch die Disziplinierung auszusetzen, wieder eine Verfügungsgewalt über die Bilder zu erlangen, in die Politiken der Sichtbarkeit zu intervenieren, eine Gebrauchsweise zu konstruieren, die die Verhältnisse der Sichtbarkeit mitbestimmen?
Oder sind das nur fromme Wünsche?

Hypothese
Wenn man einmal hypothetisch annimmt, in der Serie "Nach Motiven von .." der Gruppe G.R.A.M. spielen Politiken der Sichtbarkeit eine zentrale Rolle, geht es um die gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen von Sichtbarkeit, wie kann dann eine Verfügung über Bilder erreicht werden, wenn wir "uns unserer eigenen Positionierung im Feld des Sichtbaren genau dann bewusst [werden] , wenn wir uns selbst in der Gestalt einer fantasma-tischen Fotografie wahrnehmen" (Kaja Silverman), oder andere Diagnosen davon ausgehen, dass der "Körper selbst, befinde er sich nun vor oder hinter dem fotografischen Apparat, (...) in eine prothetische Beziehung mit diesem Apparat [gerät]. Etwas wird dem Körper physikalisch hinzugefügt, eine technolo-gische Supplementarität, die einen völlig neuen Körper hervorbringt, der von einer technologischen Hybridität zerrissen ist." (Douglas Fogle)
Im Wechselspiel der Repräsentationen findet sich das Subjekt also inmitten der Bildoberflächen wieder, als zerissenes, technologisch konstruiertes, hybrides Selbst, das sich seiner Identität gewissermaßen versichert, indem es sich in Gestalt einer fantasmatischen Fotografie wahrnimmt. Lässt sich aber die Serie als solch ein Ensemble fantasmatischer Fotografien beschreiben, oder greifen wir zu weit aus? Spielt der Begriff der Verfügung über Bilder eine Rolle?

G.R.A.M., Nach Motiven von, tzr galerie, Bochum 2001
http://www.tzrgalerie.de/archiv/ausstellungen/einzel0701/exponate.html

Reinhard Braun, Echte Bilder
http://midihy.mur.at/braun/feature/gram_1798.shtml

Bildsymptome
Es scheint jedenfalls kein Zufall zu sein, dass im Mittelpunkt dieser Serie Personen/Körper stehen, die zu jenen ikoischen Bilder mutiert sind. Es scheint so, als wären die Grundlage dieser Bilder jene realen Personen/Körper, reale Schicksale. Doch werden diese Symptome des Realen überhaupt erst real in ihrer massenmedialen Repräsentation und Verbreitung. Es ist also immer die Repräsentation, die die Körper erzeugt, die die Geschichten und die Schicksale produziert, die das Reale hervorzubringen scheint. Deutet nicht gerade dieser Umstand daraufhin, sich im Zentrum von Repräsentationsverhältnissen zu bewegen, einen Zugriff auf diese Produktion von Wirklichkeit vorzunehmen, indem man sich in dieser ambivalenten Position präsentiert (und repräsentieren lässt): zugleich Symptom und realer Ausgangspunkt zu sein?
In einer früheren Serie stand genau diese Konvertierung von Subjekten in Bilder im Mittelpunkt: "Paparazzi" als mittlerweile umfangreiches Konvolut an Bildmaterial, das einerseits "wirkliche" Stars zeigt, andererseits viele "gewöhnliche" Menschen durch das fotografische Verfahren in vermeintliche Stars verkehrt. Die Fotografie ist eben eine gefräßige Bildmaschine, die sich alles aneignet, verzeichnet und als Material einer unendlichen Geschichte der Produktion von (medialer) Wirklichkeit wieder ausspuckt. Bereits in der Serie "Paparazzi" wird deutlich, dass es Bildverhältnisse sind, die Bildverhältnisse konditionieren, die Lesevorgänge von Bildern leiten, dass also Politiken der Sichtbarkeit im Spiel sind, wenn es darum geht, Bilder zu produzieren und/oder diese Produktion zu thematisieren.

G.R.A.M.s Paparazzi: Eine Parable vom Leben in Bildern
http://midihy.mur.at/braun/feature/gram_2299.shtml

Falsche Fragen?
Vielleicht ist es also die falsche Frage, nach einer Politik der Sichtbarkeit zu fragen und gleichzeitig danach, wie sich eine solche instrumentalisieren oder aneignen lässt. Vielleicht besteht in der massiven "Besiedelung" von fotografischen Bildern eine viel adäquatere Antwort. Vielleicht geht es genau darum, zu Bildern zu werden, als Bild in Erscheinung zu treten.
Bestätigt dies aber nicht gerade jene Disziplinierung des Selbst, die wir auch durch das visuelle Medium Fotografie erfahren? Begibt man sich dann nicht aller Möglichkeiten einer Kritik, einer kritischen Distanz?
Schwierige Frage, hängen doch davon gesamtkulturelle Probleme wie etwa der Ausstieg aus bestimmten Technologien zusammen. Was ist mit der Schrift, der Sprache? Doch schütten wir das Kind nicht mit dem Bade aus. Wir sprachen davon, inwiefern sich Politiken der Sichtbarkeit ständig verändern, davon, wie sich Instanzen der Sichtbarkeit etablieren und festigen, schließlich davon, wie solche Fotografien zu lesen sind, die sich nicht nur auf eine Geschichte der Fotografie, der Presse, der Massenmedien beziehen, sondern auch auf jenes prekäre Verhältnis zwischen Subjekten und Bildern, zwischen historischen, politischen Subjekten und Bildern bzw. ganz allgemein auf jene Mechanismen, die an der Produktion kultureller Bedeutung und Geschichte maßgeblich beteiligt sind. (Und vielleicht geht es gar nicht um eine Aneignung der Bilder, sondern um eine Aneignung der Produktionsverhältnisse.)
Man muss jedenfalls an Roland Barthes zurückdenken, der meinte, dass Geschichte erst Gestalt annimmt, wenn man sie betrachtet; um sie zu betrachten, muss man davon ausgeschlossen sein. Welche mächtigere Medien-Maschine gibt es aber, uns von der Geschichte auszuschließen und sie zu betrachten, als die Fotografie?

Roland Barthes Web Page
http://we.got.net/~tuttle/

Das Paradoxon
Wir sollten es so paradox notieren, wie sich der Sachverhalt darstellt: fotografische Bilder weisen uns einen Ort zu (sie identifizieren uns), indem sie eine radikale Cäsur einführen, uns objektivieren, zu einem Objekt machen. Fotografien ist also das Ausschließen und das Zuweisen gleichermaßen eingeschrieben.

In Funktion von Bildern
Wir reden dabei von der Rolle der Fotografie als einer konstitutiven Oberfläche der Visualisierung von Welt, als Bild-maschine, als visuelles Mediensystem, das Sub-jekte erst erzeugt, das Subjek-ten ihren Subjektstatus zuweist, diesen vorschreibt, weil es ein prinzipiell mediatisiertes Verhältnis von Subjekt und Welt markiert, sich als imaginäre Linse zwischen die Erschei-nungsformen des Wirklichen und unseren Blick schiebt, und so alles Gese-hene nach fotografischen Kriterien organisiert, wodurch Vilém Flusser davon sprechen konnte, dass wir "in Funktion der Bilder" (er-) leben, und Roland Barthes davon, dass wir nur "als Bild erscheinen oder zum Vorschein gebracht werden", oder, wie Herta Wolf und Michael Wetzel schrei-ben: "Denn wirklich ist immer, was sich durch ein Repräsentationssystem generieren läßt." Was wäre dann aber wirklicher, als diese Bilder "nach Motoven von ...", bzw. jene Bilder, auf die sich die Serie bezieht, was wäre wesentlicher von einem Repräsentationssystem erzeugt und in Umlauf gebracht? Und wie könnte man deutlicher diesen Umstand einer, wenn man so will, vollständigen Verspiegelung der Welt durch diese Reräsentationssysteme (von denen Fotografie nur eines ist) aufgreifen, als ihn, redundant, tautologisch oder wie auch immer, nochmals in Szene zu setzen, zu wiederholen, und dabei auch noch gleich die Bilder selbst nachzustellen, sich dabei also gleich noch selbst in diesen Kreislauf einzuschleusen?
Wir befinden uns also mit den Fotografien "Nach Motiven von ..." inmitten der visuellen Inszenierung der Welt, inmitten ihrer Verdoppelung, damit aber auch inmitten ihrer Dekonstruktion - denn durch das Einschleusen der Künstler selbst in die Bilder wird ihr konstruktiver Charakter sozusagen unmittelbar sichtbar. Die Künstler nehmen in ihrer Rolle sozusagen die Position eines Bruches, einer Fehlstele, eines Risses im Bildgefüge ein, ein Riss, der die Produktionsmechanismen von Bildern unmittelbar einsichtig werden lässt, weil an ihnen "etwas" nicht stimmt.

Vilém Flusser online
http://www.hydra.umn.edu/flusser/
http://www.txt.de/bollmann/flusser/schrift.htm
Das Vilém Flusser Surfboard
http://home.snafu.de/klinger/flusslnks.htm

Ein Schnitt in den Referenten
Das fo-to-grafische Bild, das, um mit Christian Metz zu sprechen, "einen Schnitt in den Referenten" macht, so "als würde unsere kör-perliche Gestalt mit einem Schlag objek-tiviert", d. h. in eine Dar-stellung verwan-delt, erhält durch die Serie "nach Motiven von ..." sozusagen seine schlagende Gestalt. Die Künstler selbst operieren dabei als jener Schnitt in den Referenten und markieren damit die Fotografie als Konfi-gu-ration des Wirklichen, als Markie-rung von Ereignis-sen, Dingen und eben Subjekten, die erst unter und durch diese Konfiguration zu Ereig-nissen, Dingen und Subjekten werden, weil das Wirkliche nicht jenseits dieser signifikanten (und anderer signifikanten) Opera-tionen existiert, sondern nur in diesem Feld des Visuellen. Das amüsante bzw. persiflierende Moment an den Aufnahmen ist, dass sie schlussendlich niemals mehr sind (und bedeuten können) als Aufnahmen der beiden Künstler an unbedeutenden Orten. Und wie bei den "Paparazzi"-Aufnahmen erhalten die Bilder ihren Sinn durch ganz andere Bedeutungszuschreibungen, als es der Bildinhalt großteils rechtfertigen würde. Es sind also immer andere Bilder, die Bildern ihre Bedeutung zuschreiben - Fotografie ist voll von Entlehnungen und Enteignungen.

Christian Metz online
http://www.arts.uwaterloo.ca/~ipederse/metz.htm
http://www.rochester.edu/College/FS/Seminars/Modern/MetzFilmLanguage/sld001.htm

Ein Star für 15 Minuten
Wenn wir allerdings von einem "Feld des Visuellen" (als Bilduniversum) sprechen, dann geht es nicht einfach um Sicht-barkeit oder Wahrnehmung, sondern vor allem um jene Prozesse der Bildpro-duktion, welche Wahrnehmung überhaupt erst einer Reflexion zuführen, indem sie sie fixieren (und das heisst: produzieren) - diese Reflexion aber hatten wir bereits erwähnt: als Begriff von Geschichte, die erst Gestalt annimmt, wenn man sie betrachtet, und um sie zu betrachten, muss man davon ausgeschlossen sein. Ein wesentlicher Aspekt jeder Politik der Sichtbarkeit (ganz im klassischen Foucaultschen Sinn einer Diskursverengung) ist es, von Sichtbarkeit, vom Sichtbar-Werden auszuschliessen.
Vielleicht liegt die eigentlich politische Bedeutung dieser Serie von G.R.A.M. darin, sich - wenn auch "nur" im Kunstkontext - durch das Einschleusen in diese Bilder eine Form der Sichtbarkeit "erschlichen" zu haben, sich camouflierend in eine Bildbedeutung eingeschrieben zu haben, die sie sich von jenen ganz anderen Bildern/Motiven sozusagen ausgeliehen haben.
Vielleicht kann man überhaupt nicht mehr erreichen, als ein Star für 15 Minuten zu sein?