Barbara Stelzl-Marx
Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung
DER GRAZER SCHLOSSBERGSTOLLEN
Ein historischer Überblick
Märchengrottenbahn, Feldbahnmuseum, „Events“ im modän gestalteten „Dom im Berg“, ein Panoramalift zum Uhrturm lassen allzu gerne die ursprüngliche Funktion des Grazer Schlossbergstollens vergessen, der während des Zweiten Weltkrieges als wichtigster Zufluchtort der Stadt bei feindlichen Luftangriffen diente. In über einer Million Arbeitsstunden errichteten Wehrmachtsangehörige, einheimische Bauarbeiter und ausländische Zwangsarbeiter von 1943 bis 1945 ein weitverzweigtes, unterirdisches Stollensystem, wovon heute nur mehr ein Bruchteil öffentlich zugänglich beziehungsweise sichtbar ist. Im folgenden soll ein kurzer historischer Überblick Entstehung und Aufgabe des Grazer Schlossbergstollens in der NS-Zeit rekonstruieren, wohin bei Fliegeralarm bis zu 40.000 Personen fliehen konnten.
Graz im alliierten Luftkrieg
Seit der 1943 erfolgten Kapitulation der deutschen Truppen in Nordafrika und der alliierten Landung in Italien änderte sich die strategische Position Österreichs: aus dem durch Entfernung und Alpen geschützten „Luftschutzkeller des Reiches“ wurde ein Angriffsziel für die alliierten Bombenverbände. Am 13. August 1943 erfolgte der erste Luftangriff der Alliierten auf Wiener Neustadt, gefolgt von weiteren Angriffen auf Industrieanlagen und Verkehrsknotenpunkte im Raum Wien/Wiener Neustadt. Die Steiermark, die bis zur Eröffnung der zweiten anglo-amerikanischen Luftfront im Sommer 1943 vor Bombenangriffen weitestgehend verschont geblieben war, entwickelte sich fortan zu einem ständigen Überflugsgebiet für die alliierten Bombenverbände.
Obwohl Graz mehrmals von Bombengeschwadern überflogen wurde, erfolgte der erste Luftangriff auf die steirische Hauptstadt erst am 25. Februar 1944. Bei den insgesamt 56 Luftangriffen auf Graz mit 28.000 abgeworfenen Bomben (davon über ein Drittel Brandbomben) wurden mehr als 7.800 Gebäude und etwa 20.000 Wohnungen zerstört. Neben rund 2.000 Verletzten kamen 1.980 Menschen ums Leben. Besonders schwer waren die Angriffe zu Allerheiligen 1944 (382 Tote), der Nachtangriff am Karsamstag, dem 31. März 1945, und der folgende Angriff am Ostermontag mit 95 Toten. Zu den wichtigsten strategischen Zielen gehörten sämtliche Bahnanlagen von Graz, die Simmering-Graz-Pauker AG, die Steyr-Daimler-Puch AG Werke in Graz-Thondorf und Graz-Puntigam, der Flugplatz Graz-Thalerhof sowie die SS-Kaserne Graz-Wetzelsdorf (heute Belgierkaserne).
Entstehung und Funktion des Schlossbergstollens 1943-1945
Die nackten Zahlen und Fakten können jedoch keinesfalls das Ausmaß an persönlichem Leid und Elend wiedergeben, das der „Krieg aus der Luft“ unter der Zivilbevölkerung auslöste. Abgesehen von den zahlreichen Toten und Verletzten verloren Tausende ihr Dach überm Kopf, litten unter der starken nervlichen Belastung sowie der erschwerten Versorgung. Immer wieder mussten sie – zum Teil auch bei Fehlalarm – Zuflucht in Luftschutzkellern beziehungsweise den Luftschutzstollen des Kalvarienberges, Plabutsch, Buchkogels unter dem Schloss St. Martin oder des Grazer Schlossberges suchen, die insgesamt Raum für über 100.000 Personen boten. Im Stollen selbst, der bei Fliegeralarm mit Menschen und deren wichtigsten Utensilien in Koffern oder Rucksäcken vollgepackt war herrschte „banges Warten im Berginneren, schweigend, strickend, bei Fadenspielen, hustend in überfüllten Kavernen, bei knapp werdender Luft, mit Ohnmachtsanfällen und Geburtswehen. – Draußen das Rumpeln der niedergehenden Bomben.“
In Graz stellte der Schlossbergstollen die wichtigste dieser Einrichtungen dar, wohin mehr als 40.000 Menschen vor den Luftangriffen flüchten konnten. Mit dem Bau des Stollens wurde erst am 9. August 1943 begonnen, unmittelbar vor den ersten Luftangriffen der Alliierten auf die „Ostmark“. Allerdings hatte der Luftschutz-Reviergruppenführer des 1. Bezirkes, Major Noltsch, bereits im Jahre 1939 auf die Notwendigkeit hingewiesen, im Schlossberg eine Stollenanlage zu errichten. Sein Plan, der einen Hauptstollen von der Sackstraße aus unter Einbeziehung des 1938 begonnenen Luftschutzstollens zum Jahndenkmal mit mehreren Querstollen vorsah, war jedoch abgelehnt worden. Wegen der geringen Gefahr an Luftangriffen herrschte auf dem Gebiet des heutigen Österreich generell bis Anfang August 1943 ein Bauverbot für öffentliche Stollen.
Nach der Aufhebung dieses Verbotes ordnete das Luftgaukommando XVII in Wien im Rahmen des Luftschutzführerprogrammes den Schlossbergstollenbau an und übertrug die oberste Bauleitung dem Reichsverteidigungskommissar in der Steiermark als Sonderbeauftragten für Luftschutzmaßnahmen. Projektant was das Stadtbauamt Graz, das auch die örtliche Bauleitung überhatte. Die nötigen Geldmittel stellte der Grazer Polizeipräsident aus Reichsgeldern zur Verfügung, wobei von den 4,6 Millionen Reichsmark Baukosten schlussendlich 850.000 unbezahlt blieben. Neben den Grazer Firmen Mayreder, Keil, List & Co, Asdag-Förster und der Universalen Baugesellschaft waren J. Wahler aus München sowie Wagner aus Essen an den Bauarbeiten beschäftigt, die rund zwei Monate vor Kriegsende, am 10. März 1945, wegen Arbeitskräftemangels eingestellt wurden. In über einer Million Arbeitsstunden führten einheimische Bauarbeiter (440.500 Stunden), britische Kriegsgefangene (348.700 Stunden), Wehrmachtsangehörige (110.000 Stunden), zivile sowjetische Zwangsarbeiter (72.000 Stunden), Häftlinge der Strafanstalt Karlau (61.950 Stunden), Luftschutzpolizei und ukrainische Polizei (46.300 Stunden) sowie polnische und italienische Zivilarbeiter (28.000 Stunden) die Arbeiten am Stollenbau durch.
In diesen 82 Wochen wurden im Grazer Schlossberg 6.300 Meter Stollenlänge mit 20 verschiedenen Eingängen aufgebrochen, wovon der Zivilbevölkerung 17 Stolleneingänge zum Aufsuchen der Anlage zur Verfügung standen. Die in der folgenden Tabelle erwähnten vier Eingänge zu den Stollen C, R, X und Y wurden geplant, jedoch nicht ausgebaut. Die nutzbare Bodenfläche betrug 12.500 Quadratmeter mit einem Luftraum von etwa 70.000 Kubikmeter, weswegen die Stollenanlage den Schutzraumbestimmungen zufolge maximal 20.000 Personen aufnehmen hätte dürfen. Insgesamt 105.000 Kubikmeter Ausbruchsmenge wurde zunächst mit Lastwagen zum Straßenbau abtransportiert, in der Folge aber wegen des zunehmenden Treibstoffmangels mittels Loktransport in die Mur gestürzt oder im Stadtpark gelagert. Gleichfalls aufgrund des Treibstoffmangels mussten die Bohrhämmer elektrisch betrieben werden.
Bezeichnung des Stollens | Lage des Eingangs und Funktion | |
1. | A-Stollen | Neben dem Haus Wickenburggasse 7 beim Beginn der Schlossbergauffahrt; für Kleinst- und Kleinkinder, auch für Kinderwagen |
2. | B-Stollen | Gegenüber dem Haus Wickenburggasse 24 |
3. | T-Stollen | Gegenüber dem Haus Wickenburggasse 30 |
4. | C-Stollen | Zwischen Wickenburggasse 9 und 11; als Sanitätsstelle und Entgiftungsraum vorgesehen; von innen heraus vorgetrieben, aber nicht durchgebrochen |
5. | D-Stollen | Franz Josef-Kai 66 |
6. | E-Stollen | Zwischen den Häusern Franz Josef-Kai 54 und 56 |
7. | F-Stollen | Franz Josef-Kai 38 (Schlossbergbahn) |
8. | G-Stollen | Sackstraße 40 |
9. | H-Stollen | Schlossbergplatz (alter Stollen); für Klein- und Kleinstkinder |
10. | J-Stollen | Schlossbergplatz; für Schüler, Körperbehinderte; Maschinenraum |
11. | L-Stollen | Sackstraße 18 |
12. | M-Stollen | Sackstraße 12 (Krebsenkeller) |
13. | N-Stollen | Sporgasse 13 a |
14. | O-Stollen | Sporgasse 21 (Stiegenkirche) |
15. | R-Stollen | Sporgasse 25 (Palais Saurau); nicht ausgebaut |
16. | S-Stollen | Sporgasse 29 b |
17. | U-Stollen | Am Fuße des Schlossberges (Verbindung mit J-Stollen) |
18. | V-Stollen | Am Fuße des Schloss Schlossberges, vorgesehen als Krankenhaus und Rettungsstelle |
19. | X-Stollen | Paulustrogasse 5, nicht ausgebaut |
20. | W-Stollen | Paulustorgasse 13 a (Volkskundemuseum) |
21. | Q-Stollen | Paulustorgasse 17 und 19. Zugänge zu: Befehlsstelle der örtlichen Luftschutz-Leitung, Warnkommando, Flugnachrichtenkommando, Flak, Kreisleitung, Befehlsstelle des Gaueinsatzstabes und Maschinenräume |
22. | P-Stollen | Paulustorgasse 19 |
23. | K-Stollen | Jahndenkmal |
24. | Y-Stollen | Am Weg zum Schweizerhaus. Als Zugang zur Wehrmachtsbefehlsstelle und Sanitätsraum geplant, jedoch nicht ausgebaut |
Tab. 1: Übersicht über die Eingänge des Schlossbergstollens
Wie die Tabelle 1 und der Übersichtsplan deutlich machen, befand und befindet sich bis heute ein weitverzweigtes, beinahe labyrinthähnliches Stollensystem im Schlossberg, das während des Zweiten Weltkrieges Tausenden von Menschen Schutz bot und vielen das Leben rettete. Als Hauptstollen diente der am 23. Oktober 1943 mit dem U-Stollen am Fuße des Schlossberges verbundene J-Stollen am Schlossbergplatz, der als einziger Stollen seit 1997 beziehungsweise seit der Landesausstellung ab Mai 2000 wieder frei zugänglich ist. Sämtliche Stollen, mit Ausnahme des G-Stollens in der Sackstraße 40, waren untereinander verbunden und hatten zur Vergrößerung des Fassungsraumes mehrere Quer- und Parallelstollen. Zur Verhinderung des Eindringens eines Detonationsstoßes in die Stollen bei nahen Bombenexplosionen wurden Luftstoßsicherungen in die Eingänge eingebaut, bei einigen zusätzlich Splitterschutzmauern aufgestellt. Gasdichte Abschlüsse gab es hingegen nirgends.
Für die Aufrechterhaltung der Ordnung in den bei Fliegeralarm buchstäblich gestürmten Stollen, Erste-Hilfe-Betreuung bei Unfällen und die Freihaltung der Stolleneingänge sorgten Angehörige der Ordnungspolizei, der Luftschutzpolizei, Stadtwacht und Stollenwache in der Gesamtstärke von 75 Mann. Sie hatten in „höflich-zuvorkommender aber entschiedener Weise darauf einzuwirken, dass die Füllung der Stollen von rückwärts nach vorne zum Stolleneingang sich vollzieht und ein Herumstehen bei den Stolleneingängen verhindert wird.“ Da sich viele Frauen bereits vormittags in die Luftschutzstollen begaben und mit ihren mitgebrachten Sitzgelegenheiten in unmittelbarer Nähe der Eingänge im Alarmfalle Stauungen verursachten, befahl der Kommandeur der Schutzpolizei den als Ordner eingeteilten Organen darauf zu achten, „dass Volksgenossen, die vor dem Alarme die Stollen aufsuchen, sich mit ihren Sitzgelegenheiten ganz in das Innere der Stollen begeben.“
Wie wichtig diese Einrichtungen waren zeigt weiters der tragische Zwischenfall beim Nachtangriff am 5. März 1945, als die Schutz suchenden Menschen durch der dröhnende Lärm der tief operierenden Bomberverbände, das grelle Licht der Leuchtbomben und das starke Flakfeuer vor den Stolleneingängen in Panik gerieten. Wegen eines umgestürzten Kinderwagens und eines zu Boden gefallenen Radioapparats kamen mehrere Personen vor den Eingängen der Stollen A und T zu Sturz und wurden im allgemeinen Gedränge zu Tode getreten. Sieben Erwachsene und ein Kind verloren dabei ihr Leben. Leichtsinniges Verhalten hingegen kostete zwei Personen am 31. Jänner 1945 das Leben, die sich – entgegen den Luftschutzbestimmungen – vor dem Eingang des Schlossbergstollens U am Fuße des Schlossbergs aufhielten, um die Flugzeuge zu beobachten. Sie wurden durch Detonation einer Bombe in unmittelbarer Nähe des Stolleneingangs getötet, einige weitere „Schaulustige“ verletzt.
Ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene
Beinahe die Hälfte der Bauarbeiten am Schlossbergstollen führten ausländische Zwangsarbeiter durch, allen voran britische Kriegsgefangene gefolgt von den als „Ostarbeitern“ bezeichneten sowjetischen Zivilarbeitern. Ein ehemaliger Kriegsgefangener aus Neuseeland berichtete etwa, dass er gemeinsam mit seinen Kameraden das Aushubmaterial in große, metallene Förderkörbe zu füllen und diese in die Mur zu leeren hatte. Als der heute 83-jährige während eines Luftangriffes Zuflucht im Schlossbergstollen suchte, lernte er eine junge Grazerin kennen, die er nach Kriegsende heiratete.
Allerdings war es keinesfalls selbstverständlich, dass Kriegsgefangene, polnische Zwangsarbeiter oder „Ostarbeiter“ die öffentlichen Bunker betreten durften, die sie zum Teil sogar selbst gebaut hatten. Mit dem Argument, eine Überfüllung der Stollen zu verhindern, wurden sie mitunter mit einem dezidierten Stollenverbot belegt und sollten einen „angemessenen Schutz außerhalb der Stollen“, etwa in Splittergräben oder in nahegelegenen Wäldern suchen. Auch ein amerikanischer Kriegsgefangener, der zu Aufräumungsarbeiten am Grazer Bahnhof herangezogen wurde, erinnert sich, dass ihn das Wachpersonal daran hinderte, bei Luftangriffen in die Schutzräume flüchten. Er musste einfach unter Bäumen Schutz suchen. Als Ausweg ließen ihn mehrmals bei Bombenalarm einheimische Frauen ihre Kinder tragen, weswegen er in diesen Fällen in einem für Frauen und Kinder vorgesehenen Trakt des Schlossbergstollens fliehen konnte. Als Gegenleistung verschenkte er seine in den Kriegsjahren äußerst seltene und wertvolle Schokolade aus Hilfspakten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
Wie der folgende Bericht eines weiteren, dem Stalag XVIII A Wolfsberg unterstellten Kriegsgefangenen aus Neuseeland zeigt, wussten die ausländischen Arbeiter zum Teil vor den ersten Luftangriffen auf Graz nichts von der tatsächlichen Funktion des Schlossbergstollens: „I had asked to be transferred to a farming kommando but was instead employed excavating a tunnel under your Schlossberg. The Arbeitskommando in Graz was quite large with perhaps up to 100 prisoners. We worked in gangs of 10 or 12 at one time with work continuing 24 hours a day. This tunnel project employed a lot of people including Poles, Yugoslavs and also Austrian civilian workers. We never discovered what the tunnel was for.”
Schlussbemerkungen
Wenngleich der Bau der Schlossberganlage um ein bis zwei Jahre zu spät begonnen wurde und aufgrund zunehmenden Mangels an Arbeitskräften, Material sowie Transportmittel schlussendlich unvollendet blieb, bot der Schlossbergstollen während des Zweiten Weltkrieges Tausenden von Menschen Schutz und rettete unzähligen das Leben. Viele Grazer nächtigten im Stollen, Ausgebombte fanden hier ein Notquartier. Selbst heute noch könnte das Stollensystem im Schlossberg bei herkömmlichen Bombenangriffen eine gewisse Rolle als Schutzraum spielen, obwohl er nicht die aktuellen Anforderungen an Zivilschutzräume etwa hinsichtlich eines Strahlenschutzes erfüllt. Märchengrottenbahn, „Dom im Berg“, Feldbahnmuseum und „Lift im Berg“ tun dabei nichts zur Sache.